Mullet vs 29er Bike - Die Vor- und Nachteile

Mullet. Mixed Wheels. 297. Oder "business in the front and party in the back". Die Rede ist von zwei verschiedenen Laufradgrössen im Rahmen, vorne 29" und hinten 27.5".

Die Versuche damit gibt es schon seit über 20 Jahren, unter anderem auch von grossen Herstellern wie Specialized (Big Hit damals mit 26"/24"). Richtig durchsetzen konnte sich dieser Trend aber bislang nicht. Das könnte sich jetzt ändern, denn mit den aktuellen Laufrädern und verstellbaren Geometrien scheint die Zeit reif dafür zu sein. Dass es funktioniert und schnell ist, das haben die Downhiller bereits bewiesen, seit 2020 sind fast alle mit Mullet Bikes unterwegs und fahren Siege ein.

Auf dem Papier sind die Fakten klar: Ein grosses Hinterrad rollt besser über Hindernisse und ist demnach schneller. In der Praxis sieht das allerdings ein bisschen anders aus, hier spielen noch weitere Kriterien eine wichtige Rolle: Körpergrösse, Fahrtechnik, Einsatzzweck, steiles Gelände, enge Kurven.

Ich habe seit 2015 meistens zwei Bikes im Keller stehen, eines mit 29" und eines mit 27.5" Laufrädern. Ich gebe es zu, ich bin ein Fan von 27.5". Wenn es um den puren Fahrspass und um ein möglichst agiles Handling geht, dann liebe ich die kleinen Räder. Da ich immer offen bin für neue Technologien, habe ich das Experiment Mullet Bike selbst ausprobiert. Nur so kann ich mir eine eigene Meinung bilden, nachfolgend also meine Erfahrungen mit zwei verschieden grossen Rädern im Bike.

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Mein Rocky Mountain Instinct ist bereit für das Mullet Experiment.


Das Testbike und der Umbau

Kürzlich habe ich mein neues Rocky Mountain Instinct Carbon 50 bekommen (Testbericht in diesem Blogbeitrag) und ich wusste schon im Vorfeld, dass es für ein Mullet Projekt herhalten muss. Das Instinct bietet 150/140 mm Federweg, ist mit den neuesten Komponenten bestückt und mit den Flip-Chips vom Ride-9 System lassen sich Geometrie und Federprogression in neun verschiedenen Positionen einstellen. Zusätzlich kann der Radstand um 10 mm verändert werden.

Wer mit einem Mullet Umbau liebäugelt, der benötigt unbedingt einen Rahmen, wo die Geometrie bzw. Tretlagerhöhe verstellt werden können. Mit einem kleineren Hinterrad senkt sich das Bike nach hinten ab, das Tretlager sitzt tiefer und der Lenkwinkel wird flacher. Dies muss man korrigieren können, sonst fährt man wie mit einem Chopper durch die Gegend. In meinem Fall war das Tretlager 15 mm tiefer nach dem direkten Wechsel auf das kleinere Hinterrad.

Was man sich ebenfalls bewusst sein muss, ein Mullet Umbau ist eine Kompromisssache. Ein 29" Bike wurde für den Einsatz mit einem 29" Hinterrad konstruiert, damit es perfekt funktioniert. Wenn man ein 27.5" Rad in den Hinterbau hängt, dann sollten eigentlich die Kettenstreben um ca. 10 mm kürzer sein. Dies würde dem Bike ein noch agileres Fahrverhalten bescheren. Will heissen, ein Rahmen und vor allem der Hinterbau müssten direkt für ein 27.5" Rad entwickelt werden, so wie es jetzt bei den neuesten E-Bikes gemacht wird.

Ich habe mir extra das komplette Hinterrad von meinem alten Bike aufgehoben. Der Umbau ging somit schnell, 29" raus und 27.5" Rad rein. Das Ride-9 habe ich jeweils auf Position 1, 5 und 9 eingestellt. Nach dem Radwechsel musste ich die Bremse und Schaltung noch nachjustieren.

Beide Hinterräder sind aus Aluminium mit 30 mm Breite. Ich habe den Pirelli Scorpion S 2.4" mit 1,5 bar Luftdruck und Tubeless aufgezogen. Bei der Steifigkeit bemerkte ich keine Unterschiede, das liegt aber wahrscheinlich an meinem leichten Körpergewicht und am geschmeidigen Fahrstil.

Ich bin 177 cm gross, 68 kg schwer und fahre Rahmengrösse Large. Ich bin ein kompletter Mountainbiker, ich liebe technisch anspruchsvolle Abfahrten, fahre aber auch gerne schnell den Berg hoch.

Die erste Woche bin ich ausschliesslich mit den 29" Rädern gefahren, um mich an das neue Bike zu gewöhnen. Danach hatte ich bei jeder Ausfahrt ein 27.5" Hinterrad dabei und wechselte direkt auf den Trails hin und her. Nach drei Wochen intensivem Testen, kam ich dann zu einem für mich überraschenden Ergebnis.

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Die Tretlagerabsenkung mit dem 27.5" Hinterrad liegt bei ca. 15 mm.

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Mit dem Ride-9 lassen sich Geometrie und Tretlagerhöhe verstellen.


Praxistest auf und neben dem Trail

Mit vollgepacktem Rucksack fuhr ich jeweils raus ins Gelände. Ich wollte den Direktvergleich und habe an verschiedenen Stellen die Hinterräder gewechselt, die Geometrie verstellt und den Luftdruck im Dämpfer angepasst. Ab und zu lief auch die Stoppuhr mit, denn die Zeit lügt nie. Nur nach Gefühl zu fahren reichte mir nicht. Als Referenz diente auch noch mein letztjähriges Rocky Mountain Thunderbolt mit 27.5" Laufrädern vorne und hinten.

Beim Mullet mit Ride-9 in Position 9 liegt das Tretlager gleich hoch, wie beim 29er in Position 1. Allerdings war mir der Lenkwinkel in der in Position 9 zu steil. Ich wählte dann für alle weiteren Tests die neutrale Position 5. Beim 29er tüftelte ich ebenfalls mit verschiedenen Einstellungen. Hier fühlte ich mich in der flachsten Position 1 am wohlsten und das Bike lag am stabilsten am Boden. Den Radstand fuhr ich immer in der kurzen Version (438 mm lange Kettenstreben).

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Nichts dem Zufall überlassen. Ich war mit Stoppuhr, Kamera und Notizblock unterwegs.


Uphill auf Schotter und Wurzeln

Wenn es um den reinen Vortrieb geht, dann ist das grosse Hinterrad klar schneller. Sobald es rollt geht es zügig vorwärts. Ich fuhr einen 700 Meter langen Anstieg mit 60 Höhenmetern auf Schotter hoch und versuchte mit beiden Hinterrädern eine gleiche Geschwindigkeit mit gleichem Kraftaufwand zu erreichen. Mit dem 29er Rad war ich 4 Sekunden schneller oben.

Danach fuhr ich über einen steilen mit Wurzeln gespickten Anstieg hoch. Auch hier merkt man, dass das grosse Rad besser rollt. Das kleine Hinterrad bleibt immer wieder mal hängen und man muss viel aktiver mit dem Körper arbeiten. Das geht auf die Dauer an die Kraftreserven.

Vorteil 29er.

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Wenn es um den reinen Vortrieb geht, dann ist das 29er unschlagbar.

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Nachteil 27.5", das Hinterrad rollt schlechter über Wurzeln.


Zeitvergleich auf Downhill-Trail

Nach einem Bikekurs in Burgdorf nahm ich mir die Zeit, um den "Färnstu-Trail" mehrmals zu fahren. Der Trail ist 900 Meter lang, im oberen Teil ein Wanderweg und im unteren Teil ausgebaut mit Anliegerkurven und Sprüngen. Da es auch Fussgänger auf dem Trail gibt, habe ich nicht alles riskiert, sondern versuchte einfach flüssig durchzuziehen.

Die erste Fahrt war mit dem Mullet. Ich kam gut runter und die Zeit stoppte bei 2:33. Danach folgt der Radwechsel und es ging nochmals nach oben. Mit dem 29er fühlte sich die Fahrt schneller an und im Ziel zeigte die Stoppuhr 2:35 an. Waaaaaasss?! Ich war mit dem grossen Hinterrad 2 Sekunden langsamer... Das zeigt, wie sehr das Gefühl täuschen kann.

Lediglich knapp 2 Sekunden Differenz auf über 2 Minuten Fahrzeit. Das unterstreicht einerseits meine Fähigkeiten als Testfahrer, ich kann ein Bike auf einem konstant hohen Niveau bewegen. Andererseits ist es schwierig ein Urteil zu fällen. Der Zeitunterschied hat hier nichts mit der Radgrösse zu tun, irgendwo habe ich einfach mehr gebremst oder schneller beschleunigt.

Vorteil Mullet bzw. Unentschieden.

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Die Zeit läuft, fliegend über den Färnstu-Trail in Burgdorf.

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Die Stoppuhr lügt nie. Mit dem Mullet war ich im Downhill knapp 2 Sekunden schneller!


Bunny Hop springen

Bei meinen Lieblingstrick Bunny Hop erlebte ich die grösste Überraschung. Mit meinem Thunderbolt lag meine persönliche Rekordhöhe bei über 70 cm. Ich hätte wetten können, dass ich mit dem grösseren und längeren Instinct niemals so hoch komme.

Die ersten Versuche machte ich mit dem Mullet Setup. Ich übersprang gleich auf Anhieb 60 cm und danach auch noch 65 cm. Nun war die Latte also bereits auf 70 cm. Nach drei Anläufen hatte ich auch diese Höhe geknackt. Zur Bestätigung sprang ich mehrmals locker über die 70 cm.

Nun folgte die selbe Übung mit dem 29" Hinterrad. Auch hier übersprang ich gleich 60 cm. Im Vergleich zum Mullet musste ich mehr am Lenker ziehen, um das Vorderrad genügend hoch zu bringen. Der längere Hebel ist spürbar, ist aber nicht besonders hinderlich. Die Latte ging höher, auch 65 cm schaffte ich problemlos. Sind tatsächlich auch 70 cm möglich? Ja, auch mit den 29" Laufrädern egalisierte ich meine bisherige Rekordhöhe!

Unentschieden.

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Bunny Hop über 70 cm mit dem Mullet.

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70 cm Bunny Hop mit dem 29er. Man beachte den geringen Gesässabstand zum Rad.


Hohe Stufen und Manuals fahren

Immer wenn das Gesäss weit nach hinten geschoben werden muss, dann kommt der grösste Nachteil vom 29" Hinterrad. Es fehlt an Bewegungsfreiheit und man berührt unweigerlich mit dem Gesäss das Rad.

Dies ist vor allem für kleinere Personen, oder solche mit kurzen Beinen ein Problem. Mit meinen 177 cm bin ich auch nicht sonderlich gross und bei hohen Stufen oder Manuals über Wellen, erlebe ich immer wieder mal die "Arschbremse". Mit dem 27.5" Hinterrad ist das nicht der Fall.

Vorteil Mullet.

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Mehr Bewegungsfreiheit. Bei hohen Stufen liegt der Vorteil beim Mullet.

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Arschbremse... Der grösste Nachteil vom 29er für kleingewachsene Personen.

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Mullet for Manuals! Mit dem kleinen Hinterrad steigt das Vorderrad besser.


Kurven fahren

In den Kurven ist es schwierig, einen wirklichen Unterschied zwischen den zwei Radgrössen zu spüren. Rein theoretisch bietet ein 29er Rad wegen der grösseren Auflagefläche mehr Traktion. Der Untergrund und der Reifen selbst sind aber entscheidend, ob diese Traktion überhaupt erreicht wird.

Gefühlsmässig hatte ich mit dem Mullet eine hecklastigere Position auf dem Bike. Durch das kleinere Hinterrad hängt man automatisch ein bisschen weiter hinten drin, gleichzeitig fehlt dadurch ein wenig Grip am Vorderrad. Mit dem grossen 29er Hinterrad stehe ich zentraler zwischen den Rädern, die Gewichtsverteilung ist ausgeglichener und der Druck liegt auf beiden Rädern.

Bei schnellen Richtungswechseln ist das Mullet ein Tick wendiger. In langgezogenen Kurven bietet aber das 29er mehr Laufruhe und Traktion.

Unentschieden.

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Bei schnellen Richtungswechseln ist das 27.5" Hinterrad ein Tick wendiger.

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Das 29er bietet mehr Laufruhe in langgezogenen Kurven. (Foto: spitznagel.ch)


Spitzkehren fahren und Hinterrad versetzen

Beim Spitzkehren fahren und Hinterrad versetzen spielt die Hinterradgrösse nur eine untergeordnete Rolle. Da das Hinterrad nur dem Vorderrad folgen muss und beim Versetzen sogar in der Luft ist, hat das keinen Einfluss auf die Kurve.

Hier konnte mein altes Thunderbolt punkten. Mit den kleineren Rädern und dem kurzen Radstand ging es viel flinker um die engen Kehren.

Unentschieden.

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In Spitzkehren spielt die Hinterradgrössse eine untergeordnete Rolle.

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Beim Hinterrad versetzen ist das Können wichtiger als die Laufradgrösse.


Fazit

Es war ein Kopf an Kopf Rennen. Beide Hinterradgrössen bieten Vor- und Nachteile, je nach dem wo und wie man sie einsetzt.

Vor diesem Test war ich der festen Überzeugung, dass ich zukünftig ein Mullet fahren würde. Während den vielen Radwechseln merkte ich aber immer mehr, dass mit dem 29" Hinterrad alles möglich ist, was ich auch mit dem 27.5" Hinterrad mache. Das kleinere Rad konnte sich bei keiner Tour und bei keinem Manöver markant absetzen.

Der einzige wirkliche Vorteil vom 27.5" Hinterrad ist die grössere Bewegungsfreiheit. Wer eher klein ist oder wer nur steile Trails und im Bikepark fährt, für den kann ein Mullet die Lösung sein.

Mein Umbau war zudem eine Kompromisssache. Ein reinrassiges Mullet müsste direkt für ein 27.5" Hinterrad konstruiert werden und kurze Kettenstreben haben, damit ein wirklich agiles und verspieltes Fahrverhalten erreicht wird.

Was man auch nicht ausser Acht lassen sollte sind die hohen Kosten für einen Umbau. Wer sich extra ein kleines Hinterrad zulegt und dies mit Reifen, Kassette und Bremsscheibe bestückt, der muss bis zu CHF 1'000.00 in die Finger nehmen. Eine teure Investition für kaum spürbare Vorteile.

Ich habe mich entschieden, ich werde weiterhin mit 29" Laufrädern unterwegs sein, vorne und hinten!

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Ich bleibe bei 29" Laufrädern vorne und hinten!